Farblich perfekt im Löwen

Giovanni Netzer habe ich kennengelernt, als in Vorarlberg der Kulturpreis in der Sparte Tanz verliehen wurde, das ist jetzt auch schon wieder 10 Jahre her. Damals war das origen festival cultural, das Giovanni erfunden hat und leitet, noch ganz jung.

Uns führt der Weg häufiger mal über den Julierpass und so haben wir verfolgen dürfen, die dort für origen der rote Turm entstand, wir haben dort im Turm ein phantastisches Chorkonzert miterlebt, mitten in der tief verschneiten Landschaft mit vielen Kerzen und beeindruckenden Stimmen. In der Burg Riom und in der Scheune haben wir in den folgenden Jahren mehrmals großartige Tanzabende gesehen, stets jung, packend, in Auseinandersetzung mit dem Raum und mit relevanten Themen. So viel war mir schnell klar, Giovanni Netzer ist ein Wahnsinniger – im positiven Sinn. Es braucht eine gute Portion Wahnsinn und den tiefen Glauben an die Macht der Kultur, um im ländlichen Graubünden aus dem Nichts ein derartiges Festival hochzuziehen.

Im SRF bi de lüt haben wir dann 2021 mitverfolgt, wie das origen festival sein nächstes Projekt in Angriff genommen hat, nämlich das Passdorf Mulegns zu retten. Wie oft waren wir an den Häusern dort vorbeigefahren, hatten uns durch die Engstelle gequält und uns über die imposanten Häuser gewundert. Und jetzt konnten wir dabei zusehen, wie die weiße Zuckerbäckervilla von Mulegns, einfach weil Giovanni Netzer das wollte und die Überzeugungskraft besitzt, diesen Willen auch umzusetzen, nicht abgerissen wurde, sondern stattdessen acht Meter nach hinten verrückt wurde. Was für ein Spektakel, was für eine Hochachtung vor dem Erbe der Vergangenheit. Begleitet wurde es von Sängerinnen und Sängern, die, während sich das Haus millimeterweise bewegte, durch die Fenster hinaus in das Dorf rätoromanische Lieder sangen. Ich sage ja, der Mann ist wahnsinnig.

Bei unserer nächsten Fahrt über den Julier machten wir natürlich Halt in Mulegns schauten uns das Dorf mit dem verschobenen Haus genauer an. Neben der Weissen Villa steht dort auch noch ein verschlafenes, halb verfallenes Hotel, der Löwe, und auch der wurde inzwischen durch das Festival wieder zum Leben erweckt. Für uns ist das jetzt bei jeder Fahrt ins Engadin ein Fixpunkt, in Mulegns halten, im Löwen einen Kaffee trinken, ein wenig durch die Räume im ersten Stock gehen, die inzwischen sanft renoviert sind, so dass die alte Pracht des Hauses zu erahnen ist und dennoch ein Stück Gegenwart einzieht. Auch hier gibt es Aufführungen.

Und es gehört schon lange zu jeder Fahrt, vorher zu schauen, was bei origen auf dem Spielplan steht. Letzte Woche gab es ein Konzert in der Weissen Villa, die noch nicht renoviert ist, aber wir waren sehr neugierig, wie es dort wohl innen aussieht. Wieder stehen mit malancuneia rätoromanische Lieder auf dem Programm, die wir inzwischen schätzen gelernt haben, wegen ihrer Melancholie und der zarten Zwischentöne, wegen dieser Sprache, die so musikalisch ist und bei der man immer ein wenig das Gefühl hat, gleich wird man sie verstehen, man muss nur ein wenig genauer lauschen. Tatsächlich verstehen wir die Lieder nie mit dem Verstand, aber ich glaube, wir erfassen jedesmal mehr von ihrer Schönheit, von der Sehnsucht in den Melodien und den Stimmen.

Etwa zwanzig Leute sitzen im Kreis auf Stühlen, ein alter Specksteinofen spendet wohlige Wärme und man fühlt sich schon, bevor das Konzert beginnt, verbunden mit den anderen Menschen im Raum, das macht der Ort mit einem. Als dann das Konzert einsetzt, schließe ich die Augen, lausche nur den Stimmen und versinke in die Welt der Heimwehlieder. Fast vergesse ich zu atmen, muss das, wenn der Applaus einsetzt, mit einem tiefen Atemzug kompensieren. Ich genieße die Zeit an diesem Ort.

Dieses Frühjahr gibt es das nächste wahnsinnige Großprojekt: Der Weisse Turm wird eröffnet, ein Bauwerk, dessen Säulen aus dem 3D-Drucker stammen und eine Reminiszenz an die Zuckerbäckertradition darstellen. Noch ist alles verhüllt, doch ich bin sicher, der Turm wird wieder ein Stück mehr dafür sorgen, dass Menschen anhalten, dass Kultur einen ungewöhnlichen Platz findet und dass das Dorf ein Stück lebendiger wird, ankommt in der Gegenwart und in der Zukunft.

https://www.origen.ch

Foto: Diesmal passe ich farblich einfach perfekt ins Löwen-Interieur

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